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Erotische Liebe

 

Erotische Liebe


Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen; Mutterliebe ist
Liebe zum Hilflosen. So verschieden beide voneinander sind,
ihnen ist doch gemein, daß sie sich ihrem Wesen nach nicht auf
eine einzige Person beschränken. Wenn ich meinen Nächsten
liebe, liebe ich alle meine Nächsten; wenn ich mein Kind liebe,
liebe ich alle meine Kinder, nein, ich liebe sogar darüber hinaus
alle Kinder, alle, die meiner Hilfe bedürfen. Im Gegensatz zu
diesen beiden Arten von Liebe steht die erotische Liebe. Hier
handelt es sich um das Verlangen nach vollkommener
Vereinigung, nach der Einheit mit einer anderen Person. Eben
aus diesem Grund ist die erotische Liebe exklusiv und nicht
universal; aber aus diesem Grund ist sie vielleicht auch die
trügerischste Form der Liebe.
Zunächst einmal wird sie oft mit dem explosiven Erlebnis
»sich zu verlieben« verwechselt, mit dem plötzlichen Fallen der
Schranken, die bis zu diesem Augenblick zwischen zwei
Fremden bestanden. Aber wie bereits dargelegt, ist das Erlebnis
einer plötzlichen Intimität seinem Wesen nach kurzlebig.
Nachdem der Fremde für mich zu einem intimen Bekannten
geworden ist, sind zwischen uns keine Schranken mehr zu
überwinden, und ich brauche mich nicht mehr darum zu
bemühen, ihm näherzukommen. Man lernt den »Geliebten«
ebenso genau kennen wie sich selbst; oder vielleicht sollte man
besser sagen, ebensowenig wie sich selbst. Wenn es mehr Tiefe
in der Erfahrung eines anderen Menschen gäbe, wenn man die
Unbegrenztheit seiner Persönlichkeit erleben könnte, würde
einem der andere nie so vertraut - und das Wunder der
Überwindung der Schranken könnte sich jeden Tag aufs neue
ereignen. Aber für die meisten ist die eigene Person genau wie
die des anderen schnell ergründet und ausgeschöpft. Sie
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erreichen Intimität vor allem durch sexuelle Vereinigung. Da sie
das Getrenntsein von anderen in erster Linie als körperliches
Getrenntsein erfahren, bedeutet die körperliche Vereinigung für
sie die Überwindung des Getrenntseins.
Darüber hinaus gibt es noch andere Faktoren, die viele für die
Überwindung des Abgetrenntseins halten. Man glaubt, man
könne es dadurch überwinden, daß man über sein eigenes
persönliches Leben, seine Hoffnungen und Ängste spricht, daß
man sich dem anderen von seiner kindlichen oder kindischen
Seite zeigt oder daß man sich um ein gemeinsames Interesse an
der Welt bemüht. Selbst dem anderen seinen Ärger, seinen Haß
und seine völlige Hemmungslosigkeit vor Augen zu führen wird
für Intimität gehalten, was die pervertierte Anziehung erklären
mag, welche Ehepartner häufig aufeinander ausüben, die
offenbar nur intim sind, wenn sie zusammen im Bett liegen oder
wenn sie ihrem gegenseitigen Haß und ihrer Wut aufeinander
freien Lauf lassen. Aber alle diese Arten von »Nähe«
verschwinden mit der Zeit mehr und mehr. Die Folge ist, daß
man nun bei einem anderen Menschen, bei einem neuen
Fremden Liebe sucht. Wiederum verwandelt sich der Fremde in
einen Menschen, mit dem man »intim« ist, wiederum wird das
Sichverlieben als ein anregendes, intensives Erlebnis
empfunden, und wiederum flaut es allmählich mehr und mehr ab
und endet mit dem Wunsch nach einer neuen Eroberung, nach
einer neuen Liebe - immer in der Illusion, daß die neue Liebe
ganz anders sein wird als die früheren Liebesbeziehungen. Zu
diesen Illusionen trägt die trügerische Eigenart des sexuellen
Begehrens weitgehend bei.
Die sexuelle Begierde strebt nach Vereinigung und ist
keineswegs nur ein körperliches Verlangen, keineswegs nur die
Lösung einer quälenden Spannung. Aber die sexuelle Begierde
kann auch durch die Angst des Alleinseins, durch den Wunsch,
zu erobern oder sich erobern zu lassen, durch Eitelkeit, durch
den Wunsch, zu verletzen oder sogar zu zerstören, ebenso
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stimuliert werden wie durch Liebe. Es scheint so zu sein, daß die
sexuelle Begierde sich leicht mit allen möglichen starken
Emotionen vermischt und durch diese genauso stimuliert werden
kann wie durch die Liebe. Da das sexuelle Begehren von den
meisten mit der Idee der Liebe in Verbindung gebracht wird,
werden sie leicht zu dem Irrtum verführt, sie liebten einander,
wenn sie sich körperlich begehren. Liebe kann zu dem Wunsch,
führen, sich körperlich zu vereinigen; in diesem Fall ist die
körperliche Beziehung ohne Gier, ohne den Wunsch, zu erobern
oder sich erobern zu lassen, sondern sie ist voll Zärtlichkeit.
Wenn dagegen das Verlangen nach körperlicher Vereinigung
nicht von Liebe stimuliert wird, wenn die erotische Liebe nicht
auch Liebe zum Nächsten ist, dann führt sie niemals zu einer
Einheit, die mehr wäre als eine orgiastische, vorübergehende
Vereinigung. Die sexuelle Anziehung erzeugt für den
Augenblick die Illusion der Einheit, aber ohne Liebe läßt diese
»Vereinigung« Fremde einander ebenso fremd bleiben, wie sie
es vorher waren. Manchmal schämen sie sich dann voreinander,
oder sie hassen sich sogar, weil sie, wenn die Illusion vorüber
ist, ihre Fremdheit nur noch deutlicher empfinden als zuvor. Die
Zärtlichkeit ist keineswegs, wie Freud annahm, eine
Sublimierung des Sexualtriebes, sie ist vielmehr unmittelbarer
Ausdruck der Nächstenliebe und kommt sowohl in körperlichen
wie auch in nichtkörperlichen Formen der Liebe vor.
Die erotische Liebe kennzeichnet eine Ausschließlichkeit, die
der Nächstenliebe und der Mutterliebe fehlt. Dieser exklusive
Charakter der erotischen Liebe bedarf noch einer näheren
Betrachtung. Häufig wird die Exklusivität der erotischen Liebe
mit dem Wunsch verwechselt, vom anderen Besitz zu ergreifen.
Man findet oft zwei »Verliebte«, die niemanden sonst lieben.
Ihre Liebe ist dann in Wirklichkeit ein Egoismus zu zweit; es
handelt sich dann um zwei Menschen, die sich miteinander
identifizieren und die das Problem des Getrenntseins so lösen,
daß sie das Alleinsein auf zwei Personen erweitern. Sie machen
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dann zwar die Erfahrung, ihre Einsamkeit zu überwinden, aber
da sie von der übrigen Menschheit abgesondert sind, bleiben sie
auch voneinander getrennt und einander fremd; ihr Erlebnis der
Vereinigung ist damit eine Illusion. Erotische Liebe ist zwar
exklusiv, aber sie liebt im anderen die ga nze Menschheit, alles
Lebendige. Sie ist exklusiv nur in dem Sinn, daß ich mich mit
ganzer Intensität eben nur mit einem einzigen Menschen
vereinigen kann. Erotische Liebe schließt die Liebe zu anderen
nur im Sinne einer erotischen Vereinigung, einer vollkommenen
Bindung an den anderen in allen Lebensbereichen aus - aber
nicht im Sinne einer tiefen Liebe zum Nächsten.
Damit es sich um echte Liebe handelt, muß die erotische
Liebe einer Voraussetzung genügen: Ich muß aus meinem
innersten Wesen heraus lieben und den anderen im innersten
Wesen seines Seins erfahren. Ihrem Wesen nach sind alle
Menschen gleich. Wir alle sind Teil des Einen; wir alle sind das
Eine. Deshalb sollte es eigentlich keinen Unterschied machen,
wen ich liebe. Die Liebe sollte im wesentlichen ein Akt des
Willens, des Entschlusses sein, mein Leben völlig an das eines
anderen Menschen zu binden. Tatsächlich steht diese
Vorstellung hinter der Idee von der Unauflöslichkeit der Ehe
wie auch hinter den vielen Formen der traditionellen Ehe, wo
die beiden Partner sich nicht selbst wählen, sondern füreinander
ausgesucht werden - und wo man trotzdem von ihnen erwartet,
daß sie einander lieben. In unserer gegenwärtigen westlichen
Kultur scheint uns diese Idee völlig abwegig. Wir halten die
Liebe für das Resultat einer spontanen emotionalen Reaktion, in
der wir plötzlich von einem unwiderstehlichen Gefühl erfaßt
werden. Bei dieser Auffassung berücksichtigt man nur die
Besonderheiten der beiden Betroffenen und nicht die Tatsache,
daß alle Männer ein Teil Adams und alle Frauen ein Teil Evas
sind. Man übersieht einen wesentlichen Faktor in der erotischen
Liebe - den Willen. Jemanden zu lieben ist nicht nur ein starkes
Gefühl, es ist auch eine Entscheidung, ein Urteil, ein
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Versprechen. Wäre die Liebe nur ein Gefühl, so könnte sie nicht
die Grundlage für das Versprechen sein, sich für immer zu
lieben. Ein Gefühl kommt und kann auch wieder verschwinden.
Wie kann ich behaupten, die Liebe werde ewig dauern, wenn
nicht mein Urteilsvermögen und meine Entschlußkraft beteiligt
sind?
Von diesem Standpunkt aus könnte man die Meinung
vertreten, Liebe sei ausschließlich ein Akt der willensmäßigen
Bindung an einen anderen, und es komme daher im Grunde
nicht darauf an, wer die beiden Personen seien. Ob die Ehe von
anderen arrangiert wurde oder das Ergebnis einer individuellen
Wahl war: nachdem sie einmal geschlossen ist, sollte dieser Akt
den Fortbestand der Liebe garantieren. Diese Auffassung
übersieht jedoch ganz offensichtlich die paradoxe Eigenart der
menschlichen Natur und der erotischen Liebe. Wir alle sind eins
- und trotzdem ist jeder von uns ein einzigartiges, nicht
wiederholbares Wesen. In unserer Beziehung zu anderen
wiederholt sich das gleiche Paradoxon. Insofern wir alle eins
sind, können wir jeden auf die gleiche Weise im Sinne der
Nächstenliebe lieben. Aber insofern wir auch alle voneinander
verschieden sind, setzt die erotische Liebe gewisse spezifische,
höchst individuelle Elemente voraus, wie sie nur zwischen
gewissen Menschen und keineswegs zwischen allen zu finden
sind.
So sind beide Auffassungen richtig, die Ansicht, daß die
erotische Liebe eine völlig individuelle Anziehung, etwas
Einzigartiges zwischen zwei bestimmten Personen ist, wie auch
die andere Meinung, daß sie nichts ist als ein reiner Willensakt.
Vielleicht sollte man besser sagen, daß die Wahrheit weder in
der einen noch in der anderen Auffassung zu finden ist. Daher
ist auch die Idee, man könne eine Verbindung ohne weiteres
wieder lösen, wenn sie sich als nicht erfolgreich herausstellt,
ebenso irrig wie die Ansicht, daß man eine Verbindung unter
keinen Umständen wieder lösen dürfe.
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Mütterliche Liebe

 

Mütterliche Liebe


Mit dem Wesen der mütterlichen Liebe haben wir uns bereits
in einem früheren Kapitel beschäftigt, als wir den Unterschied
zwischen der mütterlichen und der väterlichen Liebe
behandelten. Die Mutterliebe ist, wie bereits gesagt, die
bedingungslose Bejahung des Lebens und der Bedürfnisse des
Kindes. Aber hier ist noch etwas Wichtiges hinzuzufügen. Die
Bejahung des Lebens des Kindes hat zwei Aspekte: der eine
besteht in der Fürsorge und dem Verantwortungsgefühl, die zur
Erhaltung und Entfaltung des Lebens des Kindes unbedingt
notwendig sind. Der andere Aspekt geht über die bloße
Lebenserhaltung hinaus. Es ist die Haltung, die dem Kind jene
Liebe zum Leben vermittelt, die ihm das Gefühl gibt: Es ist gut
zu leben, es ist gut, ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen
zu sein; es ist gut, auf dieser Welt zu sein! Diese beiden Aspekte
der mütterlichen Liebe kommen in der biblischen Schöpfungsgeschichte
prägnant zum Ausdruck. Gott erschafft die Welt, und
er erschafft den Menschen. Dies entspricht der einfachen
Fürsorge für das Geschaffene und seiner Bejahung. Aber Gott
geht über dieses notwendige Minimum hinaus. An jedem Tag
der Schöpfung sagt Gott eigens zu dem, was er geschaffen hat:
»Es ist gut!« Diese besondere Bestätigung gibt in der
mütterlichen Liebe dem Kind das Gefühl: »Es ist gut, geboren
worden zu sein.« Sie vermittelt dem Kind die Liebe zum Leben
und nicht nur den Willen, am Leben zu bleiben. Der gleiche
Gedanke dürfte auch in einem anderen biblischen Symbol zum
Ausdruck kommen. Das gelobte Land (Land ist stets ein
Muttersymbol) wird beschrieben als »ein Land, wo Milch und
Honig fließen«. Die Milch ist das Symbol des ersten Aspekts der
Liebe, dem der Fürsorge und Bestätigung. Der Honig
symbolisiert die Süßigkeit des Lebens, die Liebe zum Leben und
das Glück zu leben. Die meisten Menschen sind fähig, »Milch«
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zu geben, aber nur eine Minderzahl unter ihnen kann auch
»Honig« spenden. Um Honig spenden zu können, muß die
Mutter nicht nur eine »gute Mutter« sein, sie muß auch ein
glücklicher Mensch sein - ein Ziel, das nur wenige erreichen.
Die Wirkung auf das Kind kann man kaum zu hoch einschätzen.
Die Liebe der Mutter zum Leben ist ebenso ansteckend wie ihre
Angst. Beide Einstellungen haben einen tiefen Eindruck auf die
gesamte Persönlichkeit des Kindes. Tatsächlich kann man bei
Kindern und bei Erwachsenen jene, welche nur »Milch«
bekommen haben, deutlich von denen unterscheiden, die »Milch
und Honig« erhielten.
Im Gegensatz zur Nächstenliebe und zur erotischen Liebe, die
beide eine Liebe zwischen Gleichen sind, ist die Beziehung
zwischen Mutter und Kind ihrer Natur nach eine Ungleichheits-
Beziehung, bei welcher der eine Teil alle Hilfe braucht und der
andere sie gibt. Wegen dieses altruistischen, selbstlosen
Charakters gilt die Mutterliebe als die höchste Art der Liebe und
als heiligste aller emotionalen Bindungen. Mir scheint jedoch,
daß die Mutterliebe nicht in der Liebe zum Säugling, sondern in
der Liebe zum heranwachsenden Kind ihre eigentliche Leistung
vollbringt. Tatsächlich sind ja die allermeisten Mütter nur so
lange liebevolle Mütter, wie ihr Kind noch klein und völlig von
ihnen abhängig ist. Die meisten Frauen wünschen sich Kinder,
sie sind glücklich über das Neugeborene und widmen sich eifrig
seiner Pflege. Das ist so, obwohl sie vom Kind nichts dafür
»zurückbekommen« außer einem Lächeln oder dem Ausdruck
von Zufriedenheit auf seinem Gesicht. Es scheint, daß diese Art
der Liebe, die man ebenso beim Tier wie bei der menschlichen
Mutter findet, teilweise instinktbedingt ist. Aber wie stark dieser
instinktive Faktor auch ins Gewicht fallen mag, es spielen
daneben auch noch spezifisch menschliche, psychische Faktoren
eine Rolle. Einer beruht auf dem narzißtischen Element in der
mütterlichen Liebe. Insofern die Mutter noch immer das Gefühl
hat, daß der Säugling ein Teil ihrer selbst ist, kann es sein, daß
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sie mit ihrer überschwenglichen Liebe zu ihm ihren eigenen
Narzißmus befriedigt. Eine andere Motivation könnte ihr
Streben nach Macht oder Besitz sein. Da das Kind hilflos und
ihrem Willen unterworfen ist, ist es für eine tyrannische und
besitzgierige Frau ein natürliches Objekt ihrer eigenen
Befriedigung.
So häufig diese Motivierungen sind, so dürften sie doch eine
weniger wichtige und universale Rolle spielen als etwas anderes,
das man als das Bedürfnis nach Transzendenz bezeichnen
könnte. Dieses Bedürfnis nach Transzendenz ist eines der
Grundbedürfnisse des Menschen, das seine Wurzel in der
Tatsache hat, daß er sich seiner selbst bewußt ist, daß er sich mit
seiner Rolle als Kreatur nicht begnügt, daß er es nicht
hinnehmen kann, wie ein Würfel aus dem Becher geworfen zu
sein. Er muß sich als Schöpfer fühlen, der die passive Rolle
eines bloßen Geschöpfs transzendiert. Es gibt viele
Möglichkeiten, diese Befriedigung des Schöpferischen zu
erreichen; der natürlichste und einfachste Weg ist die Liebe und
Fürsorge der Mutter zu dem, was sie als Mutter hervorgebracht
hat. Sie transzendiert sich selbst in ihrem Kind; ihre Liebe zu
ihm verleiht ihrem Leben Bedeutung. (In der Unfähigkeit des
Mannes, sein Bedürfnis nach Transzendenz durch das Gebären
eines Kindes zu befriedigen, ist sein Drang begründet, sich
selbst dadurch zu transzendieren, daß er selbstgeschaffene
Dinge und Ideen hervorbringt.)
Aber das Kind muß wachsen. Es muß den Mutterleib
verlassen, sich von der Mutterbrust lösen; es muß schließlich zu
einem völlig unabhängigen menschlichen Wesen werden. Wahre
Mutterliebe besteht darin, für das Wachstum des Kindes zu
sorgen, und das bedeutet, daß sie selbst wünscht, daß das Kind
von ihr loskommt. Hierin unterscheidet sich diese Liebe
grundsätzlich von der erotischen Liebe. Bei der erotischen Liebe
werden zwei Menschen, die getrennt waren, eins. Bei der
Mutterliebe trennen sich zwei Menschen voneinander, die eins
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waren. Die Mutter muß nicht nur die Loslösung des Kindes
dulden, sie muß sie sogar wünschen und fördern. Erst in diesem
Stadium wird die Mutterliebe zu einer so schweren Aufgabe, die
Selbstlosigkeit verlangt und die Fähigkeit fordert, alles geben zu
können und nichts zu wollen als das Glück des geliebten Kindes.
Auf dieser Stufe kommt es auch häufig vor, daß Mütter bei der
Aufgabe, die ihnen ihre mütterliche Liebe stellt, versagen. Einer
narzißtischen, herrschsüchtigen, auf Besitz bedachten Frau kann
es zwar gelingen, eine »liebende« Mutter zu sein, solange ihr
Kind noch klein ist. Aber nur die wahrhaft liebende Frau, die
Frau, die im Geben glücklicher ist als im Nehmen und die in
ihrer eigenen Existenz fest verwurzelt ist, kann auch dann noch
eine liebende Mutter sein, wenn das Kind sich im Prozeß der
Trennung von ihr befindet.
Die Mutterliebe zum heranwachsenden Kind, jene Liebe, die
nichts für sich will, ist vielleicht die schwierigste Form der
Liebe; und sie ist sehr trügerisch, weil es für eine Mutter so
leicht ist, ihr kleines Kind zu lieben. Aber gerade weil es später
so schwer ist, kann eine Frau nur dann eine wahrhaft liebende
Mutter sein, wenn sie überhaupt zu lieben versteht und wenn sie
fähig ist, ihren Mann, andere Kinder, Fremde, kurz alle
menschlichen Wesen zu lieben. Eine Frau, die nicht fähig ist, in
diesem Sinn zu lieben, kann zwar, solange ihr Kind noch klein
ist, eine fürsorgende Mutter sein, aber sie ist keine wahrhaft
liebende Mutter. Die Probe darauf ist ihre Bereitschaft, die
Trennung zu ertragen und auch nach der Trennung noch weiter
zu lieben.

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Nächstenliebe

 

Nächstenliebe


Die fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen
zugrunde liegt, ist die Nächstenliebe. Damit meine ich ein
Gespür für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und
»Erkenntnis«, das jedem anderen Wesen gilt, sowie den
Wunsch, dessen Leben zu fördern. Es ist jene Art der Liebe, von
der die Bibel spricht, wenn sie sagt: »Liebe deinen Nächsten wie
dich selbst« (Lev 19,18). Nächstenliebe ist Liebe zu allen
menschlichen Wesen. Es ist geradezu kennzeichnend für sie,
daß sie niemals exklusiv ist. Wenn sich in mir die Fähigkeit zu
lieben entwickelt hat, kann ich gar nicht umhin, meinen
Nächsten zu lieben. Die Nächstenliebe enthält die Erfahrung der
Einheit mit allen Menschen, der menschlichen Solidarität, des
menschlichen Einswerdens. Die Nächstenliebe gründet sich auf
die Erfahrung, daß wir alle eins sind. Die Unterschiede von
Begabung, Intelligenz und Wissen sind nebensächlich im
Vergleich zur Identität des menschlichen Kerns, der uns allen
gemeinsam ist. Um diese Identität zu erleben, muß man von der
Oberfläche zum Kern vordringen. Wenn ich bei einem anderen
Menschen hauptsächlich das Äußere sehe, dann nehme ich nur
die Unterschiede wahr, das, was uns trennt; dringe ich aber bis
zum Kern vor, so nehme ich unsere Identität wahr, ich merke
dann, daß wir Brüder sind. Diese Bezogenheit von einem Kern
zum anderen, anstatt von Oberfläche zu Oberfläche, ist eine
Bezogenheit aus der Mitte (central relatedness). Simone Weil
drückt dies besonders schön aus, wenn sie bezüglich des
Bekenntnisses »Ich liebe dich«, das ein Mann zu seiner Frau
spricht, bemerkt: »Die gleichen Worte können je nach der Art,
wie sie gesprochen werden, nichtssagend sein oder etwas ganz
Außergewöhnliches bedeuten. Die Art, wie sie gesagt werden,
hängt von der Tiefenschicht ab, aus der sie beim Betreffenden
stammen und auf die der Wille keinen Einfluß hat. Durch eine
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ans Wunderbare grenzende Übereinstimmung erreichen sie in
dem, der sie hört, genau die gleiche Tiefenschicht. So kann der
Hörer erkennen, was die Worte wert sind, sofern er hierfür
überhaupt ein Unterscheidungsvermögen besitzt.« (S. Weil,
1952, S. 117)
Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen. Aber selbst die,
die uns gleichen, sind nicht einfach uns »gleich«. Insofern wir
Menschen sind, sind wir auf Hilfe angewiesen - heute ich,
morgen du. Aber dieses Angewiesensein auf Hilfe heißt nicht,
daß der eine hilflos und der andere mächtig ist. Hilflosigkeit ist
ein vorübergehender Zustand; die Fähigkeit, auf eigenen Füßen
zu stehen und zu laufen, ist dagegen der bleibende, allen
gemeinsame Zustand.
Demnach ist die Liebe zum Hilflosen, die Liebe zum Armen
und zum Fremden der Anfang der Nächstenliebe. Sein eigenes
Fleisch und Blut zu lieben, ist kein besonderes Verdienst. Auch
ein Tier liebt seine Jungen und sorgt für sie. Der Hilflose liebt
seinen Herrn, weil sein Leben von ihm abhängt; das Kind liebt
seine Eltern, weil es sie braucht. Erst in der Liebe zu denen, die
für uns keinen Zweck erfüllen, beginnt die Liebe sich zu
entfalten. Bezeichnenderweise bezieht sich im Alten Testament
die Liebe des Menschen hauptsächlich auf Arme, Fremde,
Witwen, Waisen und schließlich sogar auf die Nationalfeinde,
die Ägypter und die Edomiter. Dadurch, daß der Mensch mit
den Hilflosen Mitleid hat, entwickelt sich in ihm allmählich die
Liebe zu seinem Nächsten; und in seiner Liebe zu sich selbst
liebt er auch den Hilfsbedürftigen, den Gebrechlichen und den,
dem die Sicherheit fehlt. Zum Mitleid gehören »Erkenntnis« und
die Fähigkeit, sich mit den anderen identifizieren zu können.
»Wenn sich ein Fremder in eurem Land aufhä lt, sollt ihr ihn
nicht unterdrücken. Er soll bei euch wie ein Einheimischer sein,
und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst
Fremde in Ägypten gewesen.« (Lev 19,33; - die gleiche
Vorstellung wie im Alten Testament findet sich auch bei H.
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Cohen, 1929, S. 167 ff.)

 

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Objekte der Liebe

 

Objekte der Liebe


Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte
Person. Sie ist eine Haltung, eine Charakter-Orientierung,
welche die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem
und nicht nur zu einem einzigen »Objekt« der Liebe bestimmt.
Wenn jemand nur eine einzige andere Person liebt und ihm alle
übrigen Mitmenschen gleichgültig sind, dann handelt es sich bei
seiner Liebe nicht um Liebe, sondern um eine symbiotische
Bindung oder um einen erweiterten Egoismus. Trotzdem
glauben die meisten Menschen, Liebe komme erst durch ein
Objekt zustande und nicht aufgrund einer Fähigkeit. Sie bilden
sich tatsächlich ein, es sei ein Beweis für die Intensität ihrer
Liebe, wenn sie außer der »geliebten« Person niemanden lieben.
Es ist dies der gleiche Irrtum, den wir bereits an anderer Stelle
erwähnt haben. Weil man nicht erkennt, daß die Liebe ein
Tätigsein, eine Kraft der Seele ist, meint man, man brauche nur
das richtige Objekt dafür zu finden und alles andere gehe dann
von selbst. Man könnte diese Einstellung mit der eines
Menschen vergleichen, der gern malen möchte und der, anstatt
diese Kunst zu erlernen, behauptet, er brauche nur auf das
richtige Objekt zu warten, und wenn er es gefunden habe, werde
er wunderbar malen können. Wenn ich einen Menschen
wahrhaft liebe, so liebe ich alle Menschen, so liebe ich die Welt,
so liebe ich das Leben. Wenn ich zu einem anderen sagen kann:
»Ich liebe dich«, muß ich auch sagen können: »Ich liebe in dir
auch alle anderen, ich liebe durch dich die ganze Welt, ich liebe
in dir auch mich selbst.«
Wenn ich sage, die Liebe sei eine Orientierung, die sich auf
alle und nicht nur auf einen einzigen Menschen bezieht, so heißt
das jedoch nicht, daß es zwischen den verschiedenen Arten der
Liebe keine Unterschiede gibt, die jeweils von der Art des
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geliebten Objekts abhängen.